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Neue Zürcher Zeitung, 24.11.94 

Aus dem Bezirksgericht Zürich  

Gewaltsdarstellung mit kulturellem Wert? 
Plädoyers der Verteidigung in "Blutgeil"-Prozess 

Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen ist am Mittwoch vor dem Zürcher Bezirksgericht gegen die vier Produzenten des Videofilmes "Blutgeil" verhandelt worden, der in fiktiver Form einen brutalen Gewaltexzess zwischen Polizisten und Randfiguren abhandelt. Nach Ansicht der Bezirksanwaltschaft, die bedingte Gefängnisstrafen fordert, verstiessen die Videomacher gegen das Verbot grausamer Gewaltdarstellung. Die Verteidigung verlangt mit Verweis auf die künstlerische Freiheit einen Freispruch. 

axb. Während die vorübergehend in der Alten Kaserne untergebrachte 3. Abteilung des Zürcher Bezirksgerichtes durch ein Grossaufgebot der Kantonspolizei gegen aussen weiträumig abgeschirmt wurde, herrschte im Auge des Zyklons eine geradezu entspannte Stimmung. Politische oder gar martialische Töne blieben am Prozess, der bereits im Vorfeld erhebliche Publizität erlangt hatte, weitgehend aus. Die Verteidigung war bestrebt, den politischen Aspekt der Geschichte im Hintergrund zu halten und vielmehr die Frage in den Mittelpunkt zu rücken, wo die künstlerische Freiheit bei der Darstellung von Gewalt aufhört und wer dies zu bestimmen hat. 

Vorgeworfen wird vier Angeklagten im Alter zwischen 25 und 31 Jahren, im Sommer 1993 den Videofilm "Blutgeil" gedreht, öffentlich vorgeführt und vertrieben zu haben. Dabei hätten sie durch Darstellung von grausamer und entwürdigender Gewalttätigkeit gegen Paragraph 135 des Strafgesetzes verstossen. Die Bezirksanwaltschaft aberkennt dem Werk einen schutzwürdigen kulturellen oder wissenschaftlichen Wert ebenso wie eine nennenswerte sozialkritische oder satirische Komponente und fordert die Bestrafung der Angeklagten mit je vier Monaten Gefängnis bedingt. 

Inhaltlich dreht sich das 25minütige Video um einen blutigen Terroranschlag auf die Zürcher Stadtpolizei, die zuerst im Wohlgroth-Areal und später am Zürichberg in ein blutiges Gemetzel zwischen Polizisten, Fixern und Hausbesetzern mündet. Äusserst brutale und blutige Szenen bis zur finalen Verspeisung der Ordnungshüter werden dabei zum Teil in Grossaufnahme gezeigt. Da der Film im Vorfeld der polizeilichen Räumung des Wohlgroth-Areals uraufgeführt wurde, schloss die Boulevardpresse auf Zusammenhänge und verhalf dem Insider -Elaborat zu unverhofftem Aufsehen. Nach Angaben der linken "WochenZeitung" distanzierte sich zumindest ein Teil der Wohlgroth-Aktivisten von den Videoproduzenten. Vor Gericht brachen die vier Angeklagten am Mittwoch ihr während der Untersuchung geübtes Schweigen. Sie machten geltend, mit ihrer Produktion die Gewaltspirale nicht angeheizt, sondern vielmehr ins Absurde geführt und damit der Lächerlichkeit preisgegeben zu haben. Mit der stark überzeichneten Ansammlung von Widerwärtigkeiten habe man einen Denkanstoss geben wollen, wobei die Hausbesetzer keineswegs in einem besseren Licht erschienen seien als deren Widersacher. Insgesamt handle es sich beim Werk um eine, unbestrittenermassen völlig geschmacklosen Komödie, die man nicht beim Nennwert nehmen könnte. 

In den Augen der Verteidigung können die im Videofilm zum Ausdruck kommenden Gewaltexzesse nicht als realitätsnah bezeichnet werden, weil das Werk als Ganzes völlig irreal wirke. Mit einfachsten Utensilien aus dem Haushalt hätten die Videoautoren einen Streifen gedreht, der dem Szenegenre "Splatters" zugeordnet werden müsse. Neben anerkannten Filmemachern wehrt sich namentlich auch Prof Dr. Christina Brinckmann, Leiterin des Seminars für Filmwissenschaft der Universität Zürich, in einer schriftlichen Stellungnahme gegen das Verbot von "Blutgeil". 

Grundsätzlich in Frage gestellt wurde die generelle Anwendbarkeit des sogenannten "Brutalo-Verbots". Bereits während der Beratungen zum Gesetz im Nationalrat hatte eine Reihe Kulturschaffender 1989 in einem offenen Brief davor gewarnt, dass nie objektivierbar sein werde, welche Kultur schutzwürdig sei und welche nicht. Dies zu entscheiden könne nicht die Aufgabe des Richters sein. Während auf der einen Seite einst verpönte Werke mit den Jahren anerkannt worden seien, müsse man sich auf der anderen Seite fragen, ob nicht zum Beispiel der Kindlifresser-Brunnen in Bern gegen das Gesetz verstosse. Gerade eine Subkultur aus minoritärer Ecke laufe Gefahr, zensuriert und ungerechtfertigt kriminalisiert zu werden. 
 
 

"Brutalo-Artikel - 
notwendig oder überflüssig?" 
Überlegungen am Rande eines Prozesses 

Ob Oliver Stones filmische Gewaltorgie "Natural Born Killers", die zurzeit in den Schweizer Kinos läuft, denn nun eigentlich verboten gehöre, fragen sich zahlreiche Leute, welche die in allen Medien geführte Gewalt-Debatte verfolgen. Um die endlose Zensurdiskussion abzukürzen, in der ein emotionales Ja meistens vor einem vernünftigen Nein kapitulieren muss, kann man sich mit der "Relativitätstheorie" behelfen: Mit grosser Wahrscheinlichkeit ist es von kleiner Bedeutung, ob dieser Film, oder ein ähnlicher, auch noch in die Kinos kommt (später in den Videohandel und das Fernsehen); denn der Schaden, falls er solchen anrichtet - und darüber gehen die Meinungen der Experten bekanntlich diametral auseinander -, kann wohl nur relativ beurteilt werden zum allgemeinen Schaden, den eine seit vielen Jahren zunehmende Brutalisierung der Kino- und Medienkultur generell anrichtet - falls...siehe oben.  

Trotzdem ist der sogenannte Brutalo-Artikel (135 StGB), mit dem das Schweizerische Strafgesetz gegen diesen und ähnliche Filme vorgehen könnte, kein unnützer, weil eigentlich unpraktikabler Artikel, wie ihm bei siener Einführung mit guten Gründen entgegengehalten wurde. Die Justiz sei, argumentieren die Gegener (weniger Gegenerinnen), wie bei jeder Zensur überfordert mit der Aufgabe zu entscheiden, was denn in Bildern der Gewalttätigkeit "schutzwürdigen oder wissenschaftlichen Wert" habe und von welchem Punkt an "die elemntare Würde des Menschen in schwerer Weise verletzt" werde. Solche Formulierungen seien, hiess es damals, weit offen für jede Art von Interpretationen und ganz abhängig von individuellen Scham- und Schmerzgrenzen.  

Natürlich ist das richtig. Und natürlich gelten gleiche oder ähnliche Bedenken für den Pornographie-Artikel oder - die Debatte ist noch in lebhafter Erinnerung - für das Anti-Rassismus-Gesetz. Aber diese Art von Gesetzgebung, die in einem juristisch schwer präzisierbaren, psychologischen und gesellschaftlichen Umfeld operieren muss, zieht ihren Wert ja nicht daraus, dass sie lückenlos alle Verstösse zu bestrafen weiss, sondern dass sie einen Rahmen setzt, innerhalb dessen gewisse gesellschaftliche Prioritäten als gültig anerkannt werden. Was zum Beispiel heisst, dass also die Übereinkünfte der freien Marktwirtschaft dort nicht mehr gelten dürfen, wo mit Grausamkeit und Sadismus Handel betrieben wird. Ob nun dagegen, wie gegen alle Gesetze, verstossen wird und ob die Verstösse, im Vergleich zu griffigeren Gesetzen, leichter zu tätigen sind, tut dabei nichts zur Sache. Im Gegenteil, man könnte sagen, die Lücken, die in der Natur eines solchen sozusagen ideellen Gesetzes liegen, bestimmen es recht eigentlich. An ihnen muss es, mit dem oder gegen den gesellschaftlichen Wertewandel, immer wieder neu definiert werden. Das freilich ist eine Aufgabe, da haben die Gegener recht, die nicht der Justiz allein überlassen werden darf.  

Nun kann also ein Film wie "Natural Born Killers" wahrscheinlich zu Recht durch die Lücken schlüpfen, weil anzunehmen ist, dass die Justizbeamten nicht weniger zwiespältig auf ihn reagieren würden als die Kritik, deren Urteil das ganze Spektrum von "genial" bis "gemeingefährlich" abdeckt. Die Lücke spricht nicht gegen die Notwendigkeit des Brutalo-Artikels, aber für die Notwendigkeit einer verhältnismässigen Anwendung. Wer nun aber, selbst widerwillig, für Verhältnismässigkeit plädiert, anlässlich eines Millionenpublikum-Films, hinter dem ein mächtiges Studio und eine hocheffiziente Vertriebsorganisation von globaler Reichweite sich in die Brust wirft, beantwortet bereits auch die Frage nach der Verhältnismässigkeit der "Blutgeil"-Anklage: Sie ist nicht gegeben.  

Einem idiotischen Splatter-Homevideo, das noch nicht einmal unter den unbedarftesten Fans des "Blut und Innereien"-Genres seine Verteidiger findet, das überdies im besten Fall ein paar Dutzend Leute zu Gesicht bekommen hätten, wird ein Prozess gemacht, der kontraproduktiver nicht sein könnte: kontraproduktiv für das Ansehen der Justiz im Allgemeinen, die offenbar ohnehin machtlos den schlimmsten Auswüchsen gegenübersteht, wie sie zurzeit in den Computer-Mailboxes grassieren sollen; kontraproduktiv für den Brutalo-Artikel im besonderen, der in einem solchen Bagatellfall nur noch als blosses Willkür-Instrument erscheint.  

Die einzigen, die von diesem Prozess profitieren können, sind die spätpubertierenden Video-Kids, die sich für das diletantische Ekelfilmchen verantwortlich zeichnen und sich bereits seit Monaten lautstark als Opfer einer Klassenjustiz bejammern können, welche unter dem Deckmantel des Brutalo-Artikels bloss schmählich nach Rache an ein paar ehemaligen Wohlgroth-Besetzern giere. Wenn schon alle Indizien für diese pathetische Version zu sprechen scheinen - "Mit Kanonen gegen Spatzen schiessen" nennt es kurz und trocken die Zürcher Film-Professorin Noll Brinckmann -, dann bleibt nur noch zu hoffen, dass das kommende Urteil des Zürcher Bezirksgericht die selbsternannten Märtyrer der Kunst eines besseren belehrt. Denn der einzige Prozess, den man ihnen eigentlich wünschen kann, ist ein Ehrverletzungsprozess aus der ehemaligen Wohlgroth-Szene. Und die Polizei, die in "Blutgeil" ebenso verzeichnet figuriert, wie die Besetzer, hat schon gar keinen Grund, sich von solchen Kindereien betroffen zu fühlen.  

Den Untersuchungsorganen aber möchte man ans Herz legen, dass sie in Zukunft ihre Brutalo-Ermittlungen nicht mehr, wie auch schon im peinlichen Fall von "Benny's Video", auf Grund von schwarzen Titelbalken in der Boulevardpresse initiieren. Das letzte, was der Brutalo-Artikel - und mit seiner Hilfe die ernsthafte Auseinandersetzung um Gewalt in den Medien - brauchen kann, ist der Verdacht, dass dieses heikle Gesetz nicht mit jener absolut notwendigen Restriktivität gehandhabt wird, die am ehesten seinem Missbrauch zuvorkommt.                    P.H.

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