Neue Zürcher Zeitung,
7.9.95
Aus dem Obergericht
Schuldsprüche im "Blutgeil-Prozess"
Hoffen auf ein Urteil des Bundesgerichts
axb. Die I. Strafkammer des Obergerichtes hat die vier Produzenten und Darsteller
des umstrittenen Videos "Blutgeil" wegen unerlaubter Gewaltdarstellung (Art. 135 Abs. 1 StGB) zu Bussen von je
1000 Franken verurteilt. Erstinstanzlich waren die Angeklaten vom Berzirksgericht
Zürich freigesprochen worden. Wohl enthalte der im Umfeld der Wohlgroth- und
Hausbesetzerszene gedrehte sogenannte "Splatter" die Darstellungen von grausamer Gewalt, befanden die Bezirksrichter. Doch wirke
das Elaborat - freiwillig oder unfreiwillig - derart unrealistisch beziehungsweise
unprofessionell, dass der Gewaltdarstellung das Element der Eindringlichkeit
abgehe. Auf Anregung des Untersuchungsrichters, der eine Bestrafung der Angeklagten
mit je vier Monaten Gefängnis beantragt hatte, ging die Staatsanwaltschaft
in Berufung.
Wie Staatsanwalt Otto Hohl am Mittwoch anlässlich der Berufungshandlung einräumte,
handelt es sich bei "Blutgeil" wohl nicht um den "Wunschkandidaten" für einen Pilotprozess. Der Aufwand der Justiz mit diesem nichtkommerziellen
Produkt erscheine unverhältnismässig. Mangels Präjudizien sehe er sich indes
gezwungen, den Fall durch die Instanzen zu ziehen, um die Grenzen des Straftatbestandes abzutasten. Wie die Verteidigung übte Hohl unverblümt Kritik an der schwammigen
Abfassung des sogenannten "Brutalo-Artikels"; der Gesetzgeber habe die Justiz damit im Regen stehengelassen. Mit der Kardinalfrage,
ob allenfalls ein schutzwürdiges kulturelles Interesse vorliege, begebe sich
die Justiz endgültig auf dünnes Eis. Er hoffe sogar, dass die Angeklagten einen
allfälligen Schuldspruch an das Bundesgericht weiterzögen.
Die Verteidigung, welche den inkriminierten Streifen in die mittlerweile etablierten
Subkultur des "Splatter" oder "Trash-Movie" einordnet, plädierte auf eine Bestätigung des vorinstanzlichen Freispruchs.
Das Ganze sei als Satire zu bewerten. Die Mehrheitsfähigkeit könne nicht ein
Kriterium der Kultur sein. Ob der Film der Kunst zuzuordnen sei oder nicht,
liess das Obergericht indes offen. Namentlich die Schlussszenen, in denen gezeigt
wird, wie ein Betrunkener einem Polizisten ein Bein abhackt, seine Gedärme
offenlegt und daran zu knabbern beginnt, verletze die elementare Menschenwürde.
Dies übersteige "das übliche Mass an Gewalt, die tagtäglich am Fernsehen zu sehen ist". Die fehlende Professionalität der Darstellung ändere nichts an deren Eindringlichkeit.
Es entstehe der Eindruck, die Darstellung der Gewalt erschöpfe sich im Selbstzweck.
Eine Schutzwürdigkeit sei nicht gegeben, weil der Film keine gedankliche oder
pädagogische Auseinandersetzung mit der gezeigten Gewaltspirale enthalte.
Wie der Referent im Zuge der streckenweise schwer nachvollziehbaren Urteilsbegründung
einräumte, fehlen auch dem Richter bei der Beantwortung der essentiellen Fragen
objektive Kriterien. Der Richter komme aber nicht umhin, das Gesetz anzuwenden
und sich dabei auf seinen sunjektiven Eindruck zu stützen. In dieser Hinsicht
sei es problematisch, von einem Pilotprozess zu sprechen, weil jeder beanstandete
Film für sich beurteilt werden müsse.
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