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Tages-Anzeiger,7.9.95

Bussen für "Blutgeil"-Autoren
Für das Obergericht enthält die Videogroteske
"an Bestialität nicht zu überbietende Gewaltdarstellungen"


Die I. Strafkammer des Obergerichts hat am Mittwoch die vier "Blutgeil"-Autoren zu Bussen von je 1000 Franken verurteilt. Sie hob damit den Freispruch des Bezirksgerichts auf.

VON DANIEL SUTER

Das Tribunal wurde zur Szene: In einem verdunkelten Saal des Obergerichts führten sich Richter, Staatsanwalt, Angeklagte, Verteidigung und die anwesenden Medienvertreter des Videofilm "Blutgeil" in voller Kürze zu Gemüte. Auf Heimkinoleinwand sahen sie die 25 Minuten dauernde Ketchup- und Kannibalen-Groteske, in welcher zwei Polizisten-Karikaturen sich mit einer Gruppe mindestens so idiotischer Pseudo-Hausbesetzer ein kunstblutiges Gemetzel liefern, welches damit endet, dass die Polizisten zerstückelt und zumindest teilweise gefressen werden. Mitten im Gelage schellt es an der Tür, und eine barsche Stimme ruft "Polizei - aufmachen!" - Ende des Films, Anfang des Filmprozesses.

In der Hitze nach Wohlgroth

Angeklagt waren die vier Autoren des Films: eine Frau, die ihren Säugling auf dem Arm trug, und drei Männer, alle um die dreissig, alle seit mehreren Jahren in verschiedenen Kunstsparten aktiv. "Blutgeil" war ihr erster Film. Sie lebten miteinander als Wohngemeinschaft in einem besetzten Haus, als am frühen Morgen des 29. November 1993 ein Grossaufgebot der Stadtpolizei bis an die Zähne bewaffnet in das Haus eindrang, sie aus den Betten zerrte und die Verhaftung detailliert auf einem Polizeivideo filmte.
Die Polizeiaktion geschah eine knappe Woche nach der Wohlgroth-Erstürmung. Bei einer Demonstration gegen die Räumung war ein Passant durch einen Steinwurf verletzt worden. Angeblich vermutete die Polizei die Unbekannte Steinewerferin in dieser Wohngemeinschaft. Gleichzeitig sollten die Autoren des kurz zuvor fertiggestellten Videos "Blutgeil" geschnappt werden.

Freispruch vor erster Instanz

Die erhitzte Stimmung der Nach-Wohlgroth-Zeit legte sich rasch wieder. Doch für die "Blutgeil"-Autoren nicht: Sie wurden von der Bezirksanwaltschaft wegen "Gewaltdarstellungen" (Artikel 135 Strafgesetzbuch) angeklagt; vier Monate Gefängnis bedingt forderte der Untersuchungsrichter für jedern der vier.
Am Jahrestag der Wohlgroth-Räumung standen die Angeklagten vor dem Bezirksgericht; doch erst MItte Januar 1995 wurde das Urteil schriftlich verkündet: Freispruch. Wohl befand das Bezirksgericht, einzelne Passagen seien Darstellungen grausamer Gewalttätigkeiten. Doch diese seien nicht "eindringlich", weil sie unrealistisch, übertrieben und unprofessionell wirkten.

Staatsanwalt für positive Kultur

Staatsanwalt Markus Hohl legte gegen den Freispruch Berufung ein. Er habe dies nicht leichtfertig gemact, sagte er in seinem Plädoyer vor Obergericht, und er betonte, dass nur der Film hier zur Diskussion stehe und nicht etwa das polizeiliche Vorgehen bei der Hausdurchsuchung. Hohl erklärte, er wolle hier einen Pilotprozess führen, um den Strafgesetzartikel 135 gegen Gewaltdarstellungen - "dieses gesetzgeberische Ungeheuer" mit seinen Gummibestimmungen - einmal auf einen konkreten Fall anwende. "Diese Angeklagten sind nicht meine Wunschkandidaten", sagte Hohl. Ein Verleiher mit geldgierigen Äuglein wäre mir lieber. Ich bestreite nicht, dass die Angeklagten hier in eine Opferrolle gedrängt wurden."
Nach diesen Beileidsbekundungen holte der Staatsanwalt mit Schwung zum Angriff aus: Die Darstellungen in "Blutgeil" seien sehr wohl eindringlich grausam und ohne schutzwürdigen kulturellen Wert. Der Geschmack der Mehrheit sei hier massgebend. "Für mich ist wesentlich, dass Kultur per se nicht negativ und nicht destruktiv sein darf", war sein Credo. Und: "Meiner Meinung nach bewegt sich jemand, der solche Filme macht, ziemlich nahe an der Grenze zum Pathologischen."
Dennoch bewertete Hohl das Verschulden der vier Autoren als "nicht schwer". Die vom Bezirksanwalt geforderten vier Monate seien eindeutig zu hart; eine bedingte Gefängnisstrafe von einem Monat sei angemessen.
Die Verteidigung verlangte einen erneuten freispruch. Rechtsanwältin Barbara Hug sprach von einem politischen Prozess, denn es sei die Polizei gewesen, welche den Antrag auf Strafverfolgung gestellt habe, und bei der Hausdurchsuchung seien Beamte der Abteilung für politisch motivierte Straftaten (PMS) an vorderster Front tätig gewesen. Die Anwältin widersprach dem Mainstream-Kulturbegriff des Staatsanwalts. Ebenso ihr Kollege Tobias Hauser, der die Gattung der Splatter- oder Trash-Filme mit ihrem Kunstblut-Überfluss in einen historischen Zusammenhang stellte.

" Nicht schutzwürdig"

Doch es zeigte sich, dass das Gericht es mehr mit der Kultur des Staatsanwalts hielt. Referent Hans Mathys fand die zwei Stellen, bei denen die Polizisten zerstückelt werden, nicht bloss geschmacklos, sondern "ekelerregend und an bestialischer Rohheit kaum zu überbieten". Der Film habe keinen schutzwürdigen kulturellen Wert; die Gewaltdarstellung sei Selbstzweck, ein Appell an die niederen Instinkte. Richterin Mireille Schaffitz war ganz seiner Meinung, ebenso Gerichtspräsident Remo Bornatico.
Als Strafe schlug Mathys eine Busse von 2000 Franken vor, er wurde aber überstimmt von den beiden anderen, die, wegen der Mitellosigkeit der Angeklagten, nur je 1000 Franken Busse beschlossen. Die Gerichtsgebühren von insgesamt 2500 Franken müssen die Verurteilten ebenso tragen wie die Untersuchungskosten. Die 37 "Blutgeil"-Kopien wurden vernichtet - ebenso das Polizeivideo von der Verhaftung, das nach Meinung des Gerichts die Persönlichkeitsrechte der Angeklagten verletzte. - Die Verteidigung hat gegen das Urteil bereits Nichtigkeitsbeschwerde angemeldet.

KOMMENTAR
An Biederkeit nicht zu überbieten


VON DANIEL SUTER

Auf dem Ketchup von "Blutgeil" ist das Obergericht ausgerutscht und der Länge nach hingefallen. Die zwei Richter und die Richterin haben eine grobschlächtige Splatter-Satire blutig ernst genommen und waren (nicht wie von den Autoren durchaus beabsichtigt) bloss angewidert, sondern im Herzen getroffen. "Mit dem Massstab eines künstlerisch aufgeschlossenen Menschen" wollte der Referent an das Untergrund-Video gehen. Statt dessen offenbarte er nur seinen engen Kunstbegriff. Seine Mitrichter zeigten die gleichen Scheuklappen.

Sie wurden darin nur noch von Staatsanwalt Markus Hohl geschlagen, der allen Ernstes behauptete, Kultur dürfe nicht negativ und destruktiv sein. "Wo bleibt das Positive, Herr Kästner?" Es ist diesem Staatsanwalt und diesen Richtern in den Herbstferien eine Reise ins toskanische San Gimignano zu gönnen. Dort mögen sie sich im Dom an den Höllenmalereien entsetzen, die - 1396 entstanden - an Grausamkeit und Destruktivität alles in den Schatten stellen, was "Blutgeil" bietet.

Man könnte über solches Banausentum lachen, wenn es nicht auch eine eindeutig politische Seite hätte. Der Staatsanwalt entschuldigte sich förmlich dafür, dass er gezwungen war, gegen ein paar arme Video-Künstler einen Pilotprozess zu führen. Doch er vergass zu erklären, warum er, dem angeblich der Kampf gegen Gewaltdarstellungen so am Herzen liegt, es unterlassen hatte, die Verleiher von "Pulp Fiction" oder von "Natural Born Killer" vor die Gerichtsschranken zu ziehen. Das wären finanzstarke, ebenbürtige Gegner gewesen, mit denen sich ein ehrenhafter Pilotprozess hätte führen lassen. Es geht dem Staatsanwalt ja nicht um Bestrafung, hat er gesagt, sondern nur darum, die verkorkste Gesetzesnorm anzuwenden.

Aber mit den geschäftstüchtigen Grossen hat Markus Hohl keinen Rechtsstreit angezettelt. Lieber richtet er seine Kanonen auf freche, mittellose Untergrund-Spatzen. Und das Obergericht spielt brav mit. Schöner Pilotprozess! Klassenjustiz ist das bessere Wort dafür.

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