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31. Mai 1989
Offener Brief an den Nationalrat

Werner Düggelin / Friedrich Dürrenmatt / Max Frisch / Markus Imhoof / Thomas Koerfer / Bernhard Luginbühl / Fredi M. Murer / Adolf Muschg / Otto F. Walther
 

Betrifft: Entwurf für die Änderung Schweiz. Strafgesetzbuches vom 26. 6.85
 

Art. 135 Gewaltdarstellungen
1 Wer Schriften, Ton- oder Bildaufnahmen, Abbildungen, andere Gegestände oder Vorführungen, die, ohne schutzwürdigen kulturellen oder wissenschaftlichen Wert zu haben, grausame Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Tiere eindringlich darstellt, herstellt, einführt, lagert, in Verkehr bringt, anpreist, ausstellt, anbietet, zeigt, überlässt oder zugänglich macht, wird mit Gefängnis oder mit Busse bestraft.
 

Gegen die Kulturzensur

Sehr geehrte Damen und Herren Nationalrätinnen und Nationalräte

Die Kultur ist der Spiegel des Menschen, der Gesellschaft und auch des Staates.

Weltweit produzieren alle Gesellschaftssysteme ein erschütterndes Mass von grausamen Gewalttätigkeiten gegen Menschen wie auch Tiere. Künstler machen es sich immer wieder zur Aufgabe aufzurütteln, indem sie in Schrift, Aufführung, Bild und Ton diese Gewalttätigkeit eindringlich darstellen - Kunstwerke als Spiegelbilder und Reflexionen einer grausamen und brutalen Wirklichkeit.

Die Geschichte der bildenden Kunst, des Theaters, des Films, der Literatur und der Musik ist voll von Beispielen von bedeutenden, zu ihrer Zeit umstrittenen und teilweise verbotenen Werken, die sich mit Gewalttätigkeit auseinandersetzen.

Der Staat hat weder das Recht noch die Aufgabe, über die Schutzwürdigkeit künstlerischer Darstellungen zu befinden. Der "schutzwürdige kulturelle Wert" liegt im Kunstwerk selbst.

Es ist absurd, wenn ein liberaler Staat seine Richter als Kunstzensoren einsetzen will, die dann folgendes zu beurteilen hättem:

1. Ist die Darstellung eindringlich?

    Ein gutes Kunstwerk zeichnet sich gerade durch seine Eindringlichkeit aus. Wollen Sie schlechte Kunstwerke privilegieren?
2. Hat die Darstellung einen kulturellen Wert?
    Glauben Sie, dass alle im Justizapparat entscheidenden Personen über eine ausreichende kulturgeschichtliche Bildung verfügen, um über den kulturellen Wert ungewöhnlicher, z.B. avantgardistischer Ausdrucksformen entscheiden zu können? Glauben Sie, dass diese nationale Norm, die Sie im Strafgesetz schaffen wollen, in den verschiedenen Regionen auch nur einigermassen einheitlich zur Anwendung kommen würde?
3. Handelt es sich um einen schutzwürdigen kulturellen Wert?
    Welche kulturelle Werte sind nicht schutzwürdig? Werden die Kunstwerke in der Schweiz künftig in solche mit Schutzwürdigkeit und solche ohne Schutzwürdigkeit klassiert? Ist schutzwürdig all das, was konform ist?
    Wären dann Kunstwerke, die Gegebenes in Frage stellen nicht schutwürdig?
    Gilt der durchschnittliche Kulturgeschmack in Verbindung mit dem sogenannten gesunden Menschenverstand als Norm?
Es kann nicht Aufgabe des liberalen Staates sein, einen generellen Kulturzensurartikel einzuführen, wenn es um das Sachproblem einer Reglementierung des kommerziellen Videovertriebes - Stichwort Schutz der Jugendlichen vor Brutalos - geht. 

Der vorgeschlagene Art. 135 des Strafgesetzbuches ist ein eindeutiger Kulturzensurartikel, der all die Gefahren und Absurditäten in sich birgt, die Zensurartikel zwingend mit sich bringen.

Der vorgeschlagene Art. 135 ist kultureller Staatsdirigismus, und darf in einem freiheitlichen Staatsgebilde keinen Platz haben.

Wir bitten Sie dringend, den Artikel in dieser Form zurückuzweisen.

mit freundlichen Grüssen

Werner Düggelin / Friedrich Dürrenmatt / Max Frisch / Markus Imhoof / Thomas Koerfer / Bernhard Luginbühl / Fredi M. Murer / Adolf Muschg / Otto F. Walther
 

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