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Liebe Freundinnen und Freunde des schlechten Geschmacks
Was sich bereits letzten Monat abzeichnete (siehe Newsletter vom 1. Okt.) wird nächste Woche rechtskräftig: Schuldig ist, wer als Schweizer in der Schweiz lebt und trotzdem nicht reich ist, sondern unter dem Existenzminimum verdient. Dissidente Künstler gehören zudem ins Gefängnis, der bedingte Strafvollzug ist zu verweigern.
Auch erneute Proteste der amerikanischen Bürgerrechtsorganisation National Campaign for Freedom of Expression (NCFE), www.ncfe.net, sowie der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst (NGBK) Berlin (siehe Beilagen) konnten das Obergericht Zürich nicht davon abbringen am 11. 11. '96 (um 11 Uhr 11?) dem Antrag von Staatsanwalt Dr. Hohl zu folgen und einen der AutorInnen von BLUTGEIL wegen Zahlungsunfähigkeit zu 33 Tagen Gefängnis unbedingt zu verurteilen.
Die III. Strafkammer (OR Dr. Schmid, OR Dr. Martin, OR Dr. Hotz) war sich auch nicht zu schade, sinngemäss zu argumentieren, der nunmehr erneut verurteilte verfolgte Künstler hätte ja "bei gutem Willen" seine kulturellen Aktivitäten aufgeben und stattdessen vollzeit für Geld arbeiten können (oder zumindest kommerziell einträgliche Kunst produzieren) und habe so die Verurteilung selbst verschuldet (siehe Urteil S. 4).
Da werden unangenehme Erinnerungen wach - nicht nur an die letztjährige Obergerichtsverhandlung in Sachen BLUTGEIL,als Staatsanwalt Dr. Hohl und die I. Strafkammer ohne mit der Wimper zu zucken forderten: "Kultur muss positiv sein!" (Siehe u.a. TA 7.9.95) Die Konsequenz: BLUTGEIL wurde als "grundsätzlich als schädlich befundene" (Urteil S. 21) "nicht schutzwürdige Kunst" offiziell verboten & verbrannt. Bezeichnend auch, dass Staatsanwalt Dr. Hohl im nachhinein in einem Schreiben an die NGBK Berlin von sich aus betont: "Ich bitte Sie jedoch zu beachten, dass das fragliche Urteil von Oberrichern gefällt wurde, die nach demokratischen Regeln gewählt worden sind und die verschiedenen Parteien angehören. Die Legitimation der Oberrichter ist daher über jeden Verdacht erhaben." (s. Beilage)
Der erneut kriminalisierte Kulturschaffende, eben zurückgekehrt von einer erfolgreichen Lesungstournee in Deutschland (16 Auftritte in 17 Tagen), hierzu lakonisch:
"Wir leben in einem freien Land. Bereits meine
erste Buchveröffentlichung landete 1983 umgehend bei der Politischen
Polizei. 1993 wurde dasselbe Buch beschlagnahmt, erneut durch
die Politische Polizei. Die betreffenden Herren waren sich nicht zu blöde,
gleichzeitig auch all unsere anderen Veröffentlichungen (Bücher,
Schallplatten, Filme, Comics usw.) zu beschlagnahmen, plus den Schweizer
Film "Berner Beben", plus Frank Zappas Film "200 Motels"
usw. usf. Der Zürcher Polizeivorstand und die Regierung decken
solches Vorgehen ausdrücklich. Wir werden hierzulande polizeilich
bespitzelt, weil wir beispielsweise 1985 Kunstausstellungen organisiert
oder 1989 Demotapes unserer Musikgruppe verschickt haben. 1995 wurde
einer unserer Filme offiziell verbrannt. Seit April 1996 ist unsere
Musik in der Schweiz offiziell verboten. 1997 werde ich für
die Kunst ins Gefängnis gehen müssen. Wir leben in einem
freien Land!"