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Kurze Geschichte der Zensur 
  
Schweiz                 "Jugendschutz"              Art. 135 
 

Griechenland 

 "Wenn wir irgend überzeugen wollen, dass nie ein Bürger den andern feind zu sein pflegt, so muss auch dergleichen schon von Anfang an zu den Kinder gesagt werden (...) und auch die Dichter muss man nötigen, in demselben Sinne ihre Reden auszurichten. Aber (...) diese sind nicht zuzulassen in unserer Stadt, mag nun ein verborgener Sinn darunterstecken oder auch keiner." Schon Plato warnt in diesem modern anmutenden Zitat vor einem Sittenverfall durch schlechte Vorbilder - er dachte da vor allem an die blutrünstigen Götter-Stories von Homer - dem gerade junge Menschen nicht ausgesetzt werden dürften. Als Massnahme dagegen schlug er das Verbot bzw. die Streichung besonders anfechtbarer Textabschnitte vor. 

 Rom 

 Der Begriff "Zensur" geht auf die römischen "Censores" zurück, die 366 v. Chr. als unabhängige Institution eingeführt wurden. Ursprünglich nur zur Vermögensschätzung gedacht, wuchs ihnen bald eine Art Sittengerichtsbarkeit zu, die sich an den Gewohnheiten bzw. Sitten der Vorväter orientierte. Religiöse und politische Gründe liessen sich dabei nicht immer trennen. In der Kaiserzeit wurden sowohl astrologische "Zauberbücher" als auch unliebsame Schriften griechischer Philosophen sowie natürlich Schmähschriften wegen Majestätsbeleidigung verbrannt. Aber auch die erotische Dichtung wie etwa Ovids "Ars amatoria" kam unter die moralische Zensur. 

 Christentum 

 Ein Grossteil frühchristlicher Literatur fiel dem Diokletian-Edikt von 303 n. Chr. zum Opfer, dessen Bücherverbrennung allerdings die untergehende römische Staatsreligion auch nicht mehr retten konnte, da schon zu dieser Zeit eine unübersehbare Anzahl von Abschriften kursierten. Ähnlich wie bei der Verfolgung Andersgläubiger wandte die Kirche auch bei unerwünschtem Gedankengut lange Zeit ähnliche Druckmittel an wie die, unter denen sie in ihrer Frühzeit selbst zu leiden hatte. 

 Inquisition, Hexenverfolgung und die Conquista zielten neben dem Missionsgedanken auch auf die systematische Zerstörung nicht nur der Bevölkerung, sondern auch des Wissens etwa der "weisen Frauen" oder indianischer Kulturen ab. 
 

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 Vorzensur 

 Schon die antike Philosophie hatte erkannt, dass Wissen Macht bedeutet und schriftlich fixierte Äusserungen die Zielgerichtetheit der mündlichen Kommunikation durchbrechen und womöglich in falsche Hände geraten könnten. Tendenziell unkontrollierbare Vervielfältigungsmöglichkeiten, namentlich die Erfindung der Druckerpresse, veranlassten zunächst die Kirche, später auch weltliche Autoritäten präventive Zensurmassnahmen vor allem "gegen ketzerische und aufrührerische Schriften" einzuleiten. 

 Der Index 

 Als bedeutendstes Verbotsorgan für jedwedes abweichende Gedankengut erlangte der berühmt-berüchtigte "Index librorum prohibitorum" oder kurz "Index Romanus", 1559 erlassen und durch die "Allgemeinen Indexregeln" bis 1948 auf über 5000 Titel erweitert, eine letztlich bis zum Vaticanum II. 1966 für die katholische Gesamtkirche verbindliche Autorität. 

 Noch 1948 wurden sämtliche - auch zukünftige - Werke von Sartre verurteilt. Ferner stehen auch die Gesamtwerke u.a. von Hobbes, Hume oder Zola auf dem Index. Adolf Hitlers "Mein Kampf" hingegen stand zu keiner Zeit auf dem Index. 

 Sittenmandate 

 Mehr über Relikte aus der "guten alten Zeit", als das verklemmte Zürich unter Zwingli halb Europa seine prüden Stempel aufdrückte im Beitrag "Zwingli lebt!" 
 

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Nachzensur 

 Mit der Abschaffung allgemeiner Präventivzensur 1694 in England, 1789 in Frankreich und 1871 in Deutschland etablierte sich neu ein Repressivsystem, das Autoren, Verleger und Verbreiter bei Verstoss ahndete. 

 Durch die vage formulierten und somit unberechenbaren Vorschriften wurde die Publikation unliebsamer Werke vor allem dadurch erschwert, dass dem Verleger durch das Konfiszieren ganzer Auflagen oftmals der finanzielle Ruin drohte. Sowohl Goethes "Götz von Berlichingen" (1773) als auch Schillers "Räuber" (1781) erschienen beispielsweise anonym, mit falschem Druckort und unter Umgehung der Vorzensur. Gleichwohl mussten sie von den Autoren überarbeitet, d.h. entschärft werden, als sie zur Aufführung kommen sollten. 
 
 

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 SCHWEIZ 

 "Unzüchtigkeit" 

Wurde im 16. und 17. Jahrhundert in den protestantischen Gebieten den "unzüchtigen Werken" keine so grosse Aufmerksamkeit geschenkt wie in den katholischen Gebieten, so breitete sich mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert ein allgemeines Interesse für den Schutz insbesondere der Jugend vor sittenverderbenden Schriften und Bilder aus. 

 Das bürgerliche Zeitalter schliesslich prägte im materialistischen und fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert die Vorstellung von Sexualität als anarchistischen, dunkeln Trieb, den es zu unterdrücken galt. Diese moralistische Kunstauffassung legte dem Künstler die Pflicht auf, die Menschen und Sitten durch moralisch "gute, schöne und wahre Werke" zu bessern und fand ihren Niederschlag in zahlreichen Gesetzen und Verboten wegen "Unzüchtigkeit". Obwohl dieser Begriff schon damals nirgends näher definiert wurde, konnten sich etliche dieser schwammigen Gesetze bis in die Gegenwart halten. 

 1981 wurden in Fribourg drei Bilder von Josef Felix Müller aus einer Ausstellung in einem ehemaligen Priesterseminar polizeilich beschlagnahmt und blieben unter gerichtlicher Verwahrung bis 1988, als das Verfahren schlussendlich eingestellt wurde, nachdem auch der Europäische Menschengerichtshof in Strassburg die Beschlagnahmung verurteilt hatte. 

 1994 qualifizierte das Bundesgericht Werke des wohl bekanntesten zeitgenössischen Schweizer Künstlers, HR Giger, als "pornographische Erzeugnisse" und verbot ihren Aushang in einem Restaurant im Namen des "durchschnittlichen Normalbürgers" und des "Jugendschutzes". 

 Einen Skandal löste die Titelseite des Tagblatts der Stadt Zürich vom 19. September '94 aus, auf der eine Skulptur des US-Künstlers Charles Ray abgebildet war, die eine "Gruppensexparty mit nackten Männern in eindeutigen Stellungen" darstelle, wie sich ein in seinem "ethischen Empfinden" verletzte EVP-Gemeinderat Peter Anderegg entsetzte und flugs vom Stadtrat ein Verbot von solchem "Material in Richtung Pornographie" forderte. 

 Liberale Tradition der Schweiz im Wandel 

 Im 19. Jhd. herrschte in der Schweiz, verglichen mit den benachbarten (wackelnden) Monarchien, eine liberale Tradition betreffend politischer Zensur. Viele Verfolgte, von Büchner bis Lenin, erhielten Schutz und Asyl. 

 Im Gegensatz zu Amerika reicht in den meisten europäischen Staaten die offene politische Zensur bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. In der Schweiz liess sich teilweise sogar eine Verschlechterung der Situation beobachten. Während des 2. Weltkriegs gab es eine offizielle Zensur, wurden Bücher gekürzt wie z.B. Glausers "Matto regiert" oder verboten. EmigrantInnen wurden mit Schreibverbot belegt. Das von Kurt Held im Exil verfasste Buch "Die rote Zora" hätte beispielsweise gar nicht geschrieben werden dürfen! 

 Während Charlie Chaplin in der Schweiz als Kulturemigrant noch willkommen war, als er sich während der KommunistInnen-Hatz des Kalten Krieges aus Amerika absetzte, wurden Filme von Alfred Rasser entweder ganz verboten wie "Läppli am Zoll" oder gelangten während Jahrzehnten nur mutwillig verstümmelt und entstellt zur Aufführung wie "Demokrat Läppli". 

 Religiöse Zensur 

 1894 brachte das Theaterstück "Das Liebeskonzil" von Oskar Panizza Kirche und Staat gegen sich auf. Der Autor wurde von - offensichtlich in ihrem Innersten getroffenen - Zeitgenossen bis an sein Ende verfolgt. 

Noch 1981 löste eine Aufführung des Stücks in Rom einen Skandal aus. 1985 wurde die Aufführung des auf dem Theaterstück basierenden gleichnamigen Filmes von Werner Schroeter in Österreich vom Landesgericht Innsbruck verboten, weil er die "religiöse Lehre herabwürdigt und die Grenze der künstlerischen Freiheit überschreitet". 

 Obwohl die Menschenrechtskommission, welche dem Europäischen Menschengerichtshof vorgeschaltet ist, sich gegen die "Überreaktion" eines Verbots aussprach und das Werk als eindeutig satirisch und für Kunst erklärte, beschied der Gerichtshof, das Verbot sei ok, denn mit der Beschlag-nahmung sei "der religiöse Frieden in Tirol" gewahrt worden. 

 Auch in der Schweiz reicht die religiöse Zensur bis in die Gegenwart: Der Kinofilm "The last Temptation of Christ" von Martin Scorsese ist im Wallis bis auf den heutigen Tag verboten, und Achternbuschs "Das Gespenst" kam in Zürich erst nach einem Gerichtsprozess frei. 

 Im September '94 reichen freikirchliche Kreise beim Bezirksgericht Zürich Anzeige gegen eine Karikatur von Nico im Tages-Anzeiger ein, die den Papst kniend vor dem entblössten Hinterteil eines islamischen Imans zeigt. Der Anzeiger spricht von "Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit" durch "öffentliche Schmähung des katholischen Glaubens". 

 "Betäubungsmittelliteratur" 

 Mehr über den diesbezüglichen Zensurschub in den "heissen" frühen 80ern, als für Bücher über Hanf Gefängnisstrafen ausgesprochen wurden, siehe im Beitrag "Buch-Zensur". 

 Politisch Motivierte Zensurprozesse 

 Zumindest während der 80er gab es eine von der Bundesanwaltschaft herausgegebene regelrechte "Schwarze Liste" verbotener Bücher, die neben "Betäubungsmittelliteratur" auch altehrwürdige Klassiker enthielten wie z.B. Johann Mosts "Revolutionäre Kriegswissenschaft". 

 Auch eine Ausgabe der Zürcher Bewegungszeitung "Brächise" wurde beschlagnahmt - letztlich allerdings nicht wegen Staatszersetzung, sondern verschämt unter dem Deckmantel "unzüchtiger Darstellung". Ein schönes Beispiel, wie ZensorInnen Gesetze und Vorschriften nach ihrem Gutdünken heranziehen - die gleiche Illustration einer erotischen Skulptur blieb im "Playboy" ohne strafrechtliche Folgen.

 Generalstabsmässig aus Buchhandlungen beschlagnahmt wurde Mitte der 80er auch eine Ausgabe der deutschen Zeitschrift "Radikal". Nach der inzwischen erfolgten Stafgesetzverschärfung betreffend "Aufruf zu strafbaren Handlungen / Vorbereitungshandlungen" (§ 191) brauchten diesmal wenigstens keine pornographischen Ausflüchte mehr bemüht zu werden. 

 Dass auch dieser Zensurparagraph (bewusst?) schwammig gehalten ist und primär politisch angewendet wird, hatte bereits ein junger Zürcher erfahren, der wegen der Worte "Lasst eure Fantasie walten" auf einem von ihm geklebten Flugblatt zu happigen 6 Monaten unbedingt verurteilt worden war. 

 Der Betreffende war zwar nicht vorbestraft gewesen, hatte aber in den frühen 80ern verschiedentlich Demo-Bewilligungen eingeholt, wurde vom Staatsschutz (unbewiesenermassen) als Bombenleger verdächtigt und stand dort zuoberst auf der Liste... 

 Im Sog der Fichenaffäre kam zudem an den Tag, dass auch zahlreiche Kulturschaffende bei der politischen Polizei wegen kulturellen Aktivitäten wie Konzerte, Ausstellungen, Publikationen, etc. verzeichnet waren. Es gab Rubriknamen wie z.B. "Linke Presseerzeugnisse", unter die auch Buchveröffentlichungen und Romane fielen. 

 Als links bekannte/fichierte Lehrer hatten und haben zumindest im Kanton Zürich faktisch Berufsverbot. 

 1993 missbrauchten in Basel ein Verkehrspolizist und weitere Eltern die Vorführung des Super 8-Tagebuchfilmes "1952" von Kilian Dellers anlässlich eines Kindergartenabschlussfestes, um dem in ihren Augen unbequemen "Kinderprojekt Basel", welches jeweils Ferienkurse organisierte und in dem Dellers auch mitwirkte, den endgültig letzten Dolchstoss zu verpassen - obwohl das Abschlussfest gar nichts mit dem Kinderprojekt zu tun hatte. Mehr zu diesem Fall im Artikel "Berufsverbot trotz Freispruch wegen Pornographie". 

 Zivilrechtliche Zensurprozesse 

 Unvollständig wäre ein Abriss über Zensur insbesondere hierzulande ohne Nennung dieser relativ moderenen Variante. Während früher "Beleidigung" nur bei Majestäten o.ä. als politisches Delikt geahndet wurde, ist heutzutage jedeR BürgerIn einE kleineR KönigIn - vorausgesetzt er/sie verfügt über genügend Barschaft und Zeit, um Ehrverletzungsprozesse führen zu können. 

 Wer hier in der Schweiz eine Arbeit oder ein Buch über eine öffentliche Persönlichkeit schreibt und dabei entdeckt, dass diese beispielsweise eine in der Öffentlichkeit bisher nicht bekannte braune Vergangenheit hat, wird diese Erkenntnis unter Umständen nur einer handverlesenen Anzahl HistorikerInnen zugänglich machen können. 

 Die Bundesgerichtspraxis sieht nämlich vor, dass die Veröffentlichung beispielsweise ungeliebter Biographien o.ä. in Rücksicht auf die beschriebene Person (oder deren Nachkommen) verboten werden und die darin geschilderten Fakten nur zu "wissenschaftlichem Zweck" verwendet werden dürfen, auch wenn sie lediglich der Wahrheit entsprechen. So wurde z.B. das Publikationsverbot eines Buches über Alt-Nationalrat Frick über alle Instanzen auf-recht erhalten. 

 Ebenfalls zivilrechtlich verboten wurde der Roman "Kupferstunde" von Dres Balmer, weil er darin - wenn auch ohne Namen und Orte zu nennen - Erlebnisse und Erfahrungen während seiner Tätigkeit als Mitarbeiter des Roten Kreuzes verarbeitet habe, was ihm vertraglich untersagt sei. Ob er diesen Maulkorb auch verpasst bekommen hätte, wenn er gewisse Dinge in einem etwas besseren Licht hätte erscheinen lassen, bleibe dahingestellt. 

 Auch das Erscheinen von Zeitschriften wird zunehmend durch "vorsorgliche Verfügungen" auf dem Gerichtsweg verhindert. Der Schweizerische Verband der Zeitungs- und Zeitschriftenverleger sprach an seiner Jahrestagung '94 diesbezüglich von einem "Maulkorb" und von "Zensur unter Mithilfe der Gerichte" und führte stellvertretend für viele andere Fälle die Beschlagnahmungen von Ausgaben von "Bilanz" und "Das Beste aus Reader's Digest" wegen angeblicher Ehrverletzung an. 
 
 

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 Art. 135  

 Zensur wegen "Gewaltdarstellung" 

 War in den 50er und 60er Jahren "Sexualität" der Hauptanlass für zensorische Aktionen, so traf es ab den 70ern immer mehr und schliesslich vor allem die "Gewalt". Mit welcher Begründung John Waters Glanzstück "Pink Flamingos" in der Schweiz beschlagnahmt, der Verleiher zwar freigesprochen, aber trotzdem zur Übernahme der Prozesskosten gezwungen und der Film nicht etwa freigegeben, sondern in gutschweizerischer Tradition eingezogen und vernichtet worden war, entzieht sich leider unserer Kenntnis. 

 Zwar hatte das neue Medium Comic-Strip bereits in den 50ern sowohl in den USA wie in Europa zu sowohl "freiwilligen" wie auch offiziellen Eingriffen geführt, doch so richtig heiss wurde die Diskussion zumindest hierzulande erst beim Medium Video. 

 In Deutschland wurde, da der 5. Artikel des Grundgesetzes eine staatliche (Vor-)Zensur explizit verbietet, auf Initiative des Staates hin 1949 die "Freiwillige Selbstkontrolle FSK der Filmwirtschaft" gegründet, 1956 die "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften BPS". Da die meisten deutschsprachigen Veröffentlichungen auf Kompatibilität mit dem Deutschen Markt ausgerichtet sind, betreffen von diesen Stellen angeordnete Massnahmen - insbesondere Abdeckungen mit Balken o.ä., Kürzungen, Unhörbarmachen durch Pfeiftöne, sowie Schnitte, wie sie in Deutschland bei Comics, Büchern und Schallplatten relativ selten, bei Videos hingegen unzählig belegt sind - auch Schweizer KonsumentInnen direkt. 

 1973 schliesslich wurde in der BRD mit § 191 Abs. 3 ein "Brutalo-Artikel" eingeführt, der u.a. "Verherrlichung von Gewalt" verbot, und der auch zu zahlreichen Verfahren und Verboten vor allem gegen Videos führte. 

 Ab Anfang der 80er berichtete die Presse von der reisserisch-spekulativ hochgepushten Video-Welle, was zu einer regelrechten Sex&Violence-Paranoia führte. In Deutschland wurden 1983 auf einen Schlag 296 Videos im Eilverfahren indiziert, und 1985 führte der Druck des sensibilisierten "Gesunden Volksempfindens" mit dem Inkrafttreten der sogenannten "Lex Video" zu einer Neuregelung des Jugendschutzgesetzes. 

 Nachdem 1983 der "Kassensturz" erstmalig auch in der Schweiz die Nation auf das mehr oder weniger heimliche Treiben ihrer Sprösslinge aufmerksam gemacht hatte, versuchte der Videoverband ein erstes Mal, die Branche mit einem Ehrenkodex "zur Vernunft zu bewegen". Im gleichen Jahr fand der Videofilm "Blutbad des Schreckens" in Bern auch vor Obergericht definitiv keine Gnade. 

 Pier Paolo Pasolinis Meisterwerk "Salo - Die 120 Tage von Sodom" war in der Schweiz jahrelang verboten, desgleichen Oshimas "Im Reich der Sinne". Auch Stanley Kubricks "Clockwork Orange" kam mit dem Gesetz in Konflikt. Der Kinofilm "Class of 1984" von Mark Lester wurde in den Kantonen Bern und Zürich beschlagnahmt, später aber freigesprochen. Nichtsdestotrotz setzte der Verleiher nach Bekanntwerden der Beschlagnahmung gleich "freiwillig" nochmals die Schere an. Ebenfalls beschlagnahmt und anschliessend freigesprochen wurde der Kinofilm "Mad Max 2". Ein in der Fernsehsendung "10 vor 10" ausgestrahlter Ausschnitt eines den Redaktoren von der Bezirksanwaltschaft Zürich zur Verfügung gestellten "echten", d.h. scheints nicht gestellten Brutalo-Pornos löste einen mittleren Skandal aus und führte zu SRG-internen Massnahmen. 

 Der "Brutalo-Artikel" 

 1987 schälte die nationalrätliche Komission den Art. 135 aus der laufenden Revision der StGB-Bestimmungen heraus, da diesbezüglich spezielle Eile geboten sei und nicht gewartet werden könne, bis eine Einigung über das gesamte Revisionspaket erzielt würde. 

 Sommer 1989 verabschiedete der Nationalrat trotz lauten Protestes namhafter Film- und Kulturschaffender ("Kulturzensurartikel") den Art. 135 in seiner neuen Fassung. Endlich hatte auch die Schweiz einen nach dem Strickmuster des ebenfalls neuen "Pornographie-Artikels" 197 gefertigten "Brutalo-Artikel" - sinnigerweise im Teil des Strafgesetzbuches über "strafbare Handlungen gegen Leib und Leben". Sogar der stramme "BPS-Report", das Organ der deutschen "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften" registriert anerkennend, dass in der Schweiz künftig ein "Totalverbot" für Gewaltdarstellungen gelte und dass es dem Nachbar tatsächlich geglückt sei, die "Darstellung von Gewalt genauso strafbar [zu machen] wie die tatsächliche Anwendung". 

 Marc Wehrlin hatte sich in der Weltwoche vom 1. Juni 1989 - unmittelbar vor der Verabschiedung - u.a. mit folgenden Worten gegen den Art. 135 ausgesprochen, die sich im Nachhinein geradezu als prophetisch herausstellten: "Die Erfahrung mit der Gerichtsbarkeit als Wächterin von Sitte und Moral haben zudem deutlich gezeigt, dass diese kaum dort eingreift, wo es um Schund (was immer auch dazuzuzählen ist) geht. An den Pranger wurden immer Werke gestellt, die von der Botschaft her die Ruhe des Bürger störten". 

 Seit Dezember 1989 gibt der Schweizerische Video-Verband in Zusammenarbeit mit der Stadtpolizei Bern eine "Verbotsliste" heraus, die allerdings nur für VerbandsmitgliederInnen verbindlich ist. Ein pensionierter Polizist schaut sich alle eingesandten Videos an und sagt Ja oder Nein. Frühling 1993 umfasste die "Verbotsliste" 199 Titel. Der "Index" der BPS, nach dessen Muster die "Verbotsliste" aufgebaut ist, umfasst mittlerweile weit über 2400 Titel. 

 1990 trat der revidierte Artikel 135 in Kraft. 1993 liess die Bezirksanwaltschaft Zürich, angeregt durch einen Blick-Artikel, Michael Hanekes "Bennys Video" überfallsmässig aus einem Kino beschlagnahmen. Es kam zwar nicht zu einer Anklage, doch die Vorstellungen waren anschliessend regelmässig gut besucht. 

 Am 29. 11 1993 beschlagnahmte ein Überfallkommando der Stadtpolizei Zürich mit Grenadieren und Antiterroreinheiten unter der Leitung von zivilen Beamten der "Fachgruppe für politisch motivierte Straftaten (PMS)", die Nachfolgeorganisation der StaPo-Fichenabteilung "Büro S", die Underground-Ketchup-Komödie "Blutgeil" und verhelfen dadurch den ProduzentInnen zu einem Gesamtkunstwerk, da die Beamten die Satire im Film knallhart nahtlos in die Realität umsetzen. Siehe dazu die Berichte über den "Fall Blutgeil". 

 Eine weitere Realsatire der Bezirksanwaltschaft Zürich, diesmal in Zusammenarbeit mit der Sittenpolizei und den Zollbehörden, war die Beschlagnahmung von Videos von Buttgereit, Bunuel und Dali sowie Polanski in der Filmhandlung Hitz. (Siehe dazu den gleichnamigen Artikel.) 

 November 1994 prüft die Bezirksanwaltschaft Zürich die Aufnahme eines Verfahrens wegen Art. 135 im Zusammenhang mit dem Kinofilm "Natural Born Killers" von Oliver Stone. Im benachbarten Kanton Aargau fordert die rechtsextreme Partei "Schweizer Demokraten" ebenfalls ein Verbot. 

 Am 23. November '94 fand in Zürich mit dem "Fall BLUTGEIL" vor Bezirksgericht erstmals ein Verfahren wegen Produktion eines "Brutalos" im Sinne von Art. 135 statt. 

  
Aus der Anti-Zensur-Zeitung HALT'S MAUL, WENN DU MITREDEN WILLST!  (Letztes Mal in Zürich beschlagnahmt im Auftrag der "Gruppe Brand + Anschläge" im September 2000, anschliessend "von der Putzfrau irrtümlich vernichtet".)

 Hauptsächlich verwendete Literatur: 

 - Seim / Spiegel: "Ab 18" - zensiert, diskutiert, unterschlagen. Beispiele aus der Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Münster 1994 

 - Marc Wehrlin: Ein echtes Problem unecht angegangen, in: Die Weltwoche, 1. Juni 1989 
  

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"Jugendschutz" und Zensur 

 Der "Jugendschutz" wird als Vorwand genommen, auch Volljährige vor sich selbst zu schützen, und kommt faktisch längst einer Zensur nicht nur für Jugendliche, sondern auch Erwachsener aller Altersklassen gleich. Ausserdem wird Zensur nicht besser, wenn man sie nur auf bestimmte Gruppen anwendet. 

In einer freien Gesellschaft, die diesen Namen zu Recht trägt, wäre es wenn schon den Jugendlichen selbst überlassen, welche Inhalte sie sehen wollen und welche nicht, und nicht scheinheiligen Erwachsenen in Form selbsternannter "JugendschützerInnen", denen es vor allem darum geht, Jugendliche auch weiterhin möglichst unmündig und unter ihrer Knute zu behalten.
 

 Zensur vs Meinungsfreiheit und Emanzipation 

 Im Gegensatz zur Zensur, die so alt ist wie die Kultur selbst, stellt das Recht auf Meinungsfreiheit eine vergleichsweise junge Errungenschaft der Demokratie dar. Zwischen Aufklärung und Intoleranz hängt sie mit der Emanzipation des Einzelnen von einer dogmatisch-bewusstseinskonstituierenden Obrigkeit und deren lebensbestimmenden Einfluss zusammen. 


No.  6'666'666'667
 
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